33 Bogen und ein Teehaus by Mehrnousch Zaeri-Esfahani

33 Bogen und ein Teehaus by Mehrnousch Zaeri-Esfahani

Autor:Mehrnousch Zaeri-Esfahani [Zaeri-Esfahani, Mehrnousch]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Peter Hammer Verlag
veröffentlicht: 2016-01-23T00:00:00+00:00


TEIL DREI

DEUTSCHLAND

Fünf Quellen hat der Fluss. Er wird „Spree“ genannt, was so viel bedeutet wie „Sprühende“. In ihrem langen Lauf fließt sie vom Osten in den Westen Berlins, wo sie in die Havel mündet. Auf ihrer letzten Strecke hat sie viel gesehen. Denn hier starben viele Menschen, die sich für die Freiheit entschieden hatten. Anders als die Spree durften die Menschen lange Zeit nicht vom Osten in den Westen wandern.

Kinder, bald kommen wir zu einer Mauer, die unbezwingbar ist. Wie eine Gefängnismauer“, kündigte mein Vater an. „Man hat sie gebaut, um die Menschen, die im östlichen Teil des Landes leben, daran zu hindern, in den anderen, den westlichen Teil zu gehen. Und wenn jemand versucht, die Mauer zu überwinden, wird er sofort erschossen. Ohne Gnade.“

„Und warum müssen wir zu dieser Mauer?“, fragte ich.

„Weil wir die Erlaubnis bekommen haben, diese Mauer zu passieren und dorthin zu gehen, wovon Millionen Menschen träumen, nach Westdeutschland“, antwortete mein Vater.

„Aber woher bist du dir so sicher, dass wir dahin dürfen, ohne dass die Ostdeutschen uns an der Mauer erschießen?“, fragte meine Mutter.

„Weil sie mir ein Visum für dreißig Stunden gegeben haben. Glaub mir, uns wird das ebenso gelingen wie all den anderen Iranern, die vor uns diese Möglichkeit genutzt haben. Sie wurden alle innerhalb der dreißig Stunden aus Ostdeutschland rausgeworfen. Es wird klappen. Ganz sicher!“, erklärte mein Vater.

Ich hatte Angst vor dieser Mauer. Wir saßen im Flughafen von Istanbul und warteten auf unseren Flug zu der unheimlichen Mauer, an der Menschen erschossen wurden.

Am Morgen hatten wir in Istanbul vor der Abreise eine iranische Freundin besucht, mit deren Tochter ich mich angefreundet hatte. Sie schenkten uns zum Abschied viele Tränen und eine Schachtel deutscher Pralinen. Bis wir die Pralinen probieren durften, mussten wir Kinder Geduld aufbringen. Unseren Eltern war nicht nach Naschen zumute. Gegen Mittag kamen wir zum Istanbuler Flughafen.

Am späten Abend hatte das Warten endlich ein Ende, und wir bestiegen das Flugzeug nach Ostberlin. Als wir unsere Sitze in der Maschine eingenommen hatten, war es für mich endgültig, dass es kein Zurück mehr gab. Ich musste von der Türkei Abschied nehmen. Meine Eltern strahlten vor Freude und waren so unbeschwert, wie ich sie selten erlebt hatte. „So, Kinder. Jetzt haben wir alle etwas Gutes verdient“, sagte meine Mutter.

Die Pralinen, dachte ich. Der Gedanke machte mich fröhlich. Meine Mutter packte die Pralinen aus. Sie riss die verheißungsvoll knisternde Folie an einem Goldfädchen auf und reichte die erste Praline unserem großen Bruder. Da mein großer Bruder immer der Abenteuerlustigste von uns allen gewesen war, probierte er als Erster alle unbekannten Esswaren und berichtete uns, ob und wie sie schmeckten. Seit wir in der Fremde lebten, hatten wir uns das angewöhnt. Oft sahen Speisen köstlich aus und schmeckten fürchterlich oder andersherum. Und tatsächlich – auch diese Pralinen bargen eine gewaltige Überraschung. Gebannt starrten wir alle auf unseren großen Bruder. Ganz vorsichtig biss er in die dunkelbraune glatte Schokoladenhülle. Sie knackte auf. Im selben Augenblick ergoss sich eine Flüssigkeit über sein Hemd. „Oje! Vorsicht, Leute! Da ist was Flüssiges drin.



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